Monday 21 November 2011

Intellektueller Grenzgang

Australien ist weit weg von Europa. Physisch hat man sowieso den einen oder anderen Kilometer abzufliegen und immer wieder stelle ich fest, dass intellektuell betrachtet sogar Lichtjahre zwischen meiner alten und meiner neuen Heimat liegen.

Laut einer Statistik geben 86 Prozent der AustralierInnen an, dass ihre Erfahrung sie im Beruf weiter brachte als eine formelle Ausbildung (Kelly Global). Diese Einstellung der AustralierInnen kann man täglich aufs Neue feststellen, weil man sie doch immer und immer wieder am eigenen Leib erfährt.

Im Supermarkt

Und sei es nur an der Supermarktkasse, wenn mal wieder keiner weiß, wie man die Kasse bedient und man sich als Kunde schlecht fühlt, da man so ein Mitleid mit den armen Teufeln hat, die dann einen Kollegen mit mehr Erfahrung herbeirufen müssen. Oder nehmen wir den Straßenbahnfahrer, der nicht weiß, wie die Straße heißt, auf der er sich befindet; es reicht zu wissen, wie man die Straßenbahn bedient. Wenn man die Strecke lediglich stumpf abfährt, reicht das auch wirklich, diese Erfahrung kann ihm Niemand streitig machen.

Auf dem Weltparkett

Das geht hin bis zur Berichterstattung in der Tageszeitung über das Treffen der Premierministerin Julia Gillard mit  dem US-Präsidenten Barack Obama. Worum es ging und ob es überhaupt um irgendwas Profundes ging, interessiert hier niemanden, dafür aber die Tatsache, dass die Premierministerin den US-Präsidenten auf die Wange geküsst hat, denn sie ist so viel besser in ihrer Rolle geworden und weiß nun auch, wie man sich zu benehmen hat. Sie hat ihre Erfahrungen gemacht und nutzt diese nun. Good girl.

In der Fußgängerzone

Ein ganz aufgeregter Australier, total gut drauf, der, wenn er nicht gerade in der Fußgängerzone Promotion für Sonnencreme macht, den Reiseführer für australische Touristen in Europa gibt, erzählt mir, wie viel er über Europa wisse. Ich solle ihm jede Frage stellen, er wird sie alle beantworten, er ist Experte in Sachen Europa und weiß alles, er hat ganz viel über unsere, die europäische Geschichte, gelernt. Noch bevor ich ihm sagen kann, dass ich ihm keine Frage stellen werde, weil ich für derartige Spielchen als Deutsche doch zu steif bin, hat er schon von alleine einfach drauflos geplappert.

„Nimmt man Griechenland beispielsweise“, lamentiert er genau so großkotzig wie auch selbstverliebt, „ganz schön schlau, dass Europa Griechenland nicht fallen lässt. Aufgrund der strategisch günstigen Lage wird Griechenland für etwaige Kriegssituationen benötigt.“ „Hm“, erwidere ich betroffen, „ich habe ihnen gar keine Frage zu stellen brauchen und schon haben sie ganz klar bewiesen, dass sie aber so rein gar nichts von Europa verstehen.“ Das hat er dann gar nicht kapiert und außerdem musste er auch schon wieder Proben der Sonnencreme an faltige Sonnenanbeter verteilen.

Erfahrungen ...

Sie alle haben ihre Erfahrungen gemacht und nutzen sie zu ihrem Weiterkommen. Wie machen die Australier das bloß? Man kann doch nur neidisch werden. Mit viel Gerede wurschteln sie sich so durch das Leben, anscheinend spielend gleichen sie den Mangel an Substanz mit einem ausgelassenen Lachen aus, wer kann ihnen etwas übel nehmen? Staunend schaue ich ihnen nun schon seit mehr als einer halben Dekade zu. Andere Länder andere Sitten.

Schöne Grüße aus Melbourne!

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